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Tropenländern aller Weltteile das Erdeessen einheimisch sei. In Guinea essen die Neger eine gelbliche Erde, welche sie Caouac nennen. Werden sie als Sklaven nach Westindien gebracht, so suchen sie sich dort eine ähnliche zu verschaffen. Sie versichern dabei, das Erdeessen sei in ihrem afrikanischen Vaterlande ganz unschädlich. s Dagegen macht der Caouac der amerikanischen Inseln die Sklaven krank. Deshalb war längst das Erdeessen auf den Antillen verboten, ob man gleichwohl 1751 in Martinique heimlich Erde auf den Märkten verkaufte. Auf der Insel Java zwischen Surabaya und Samarang sah Labillardière in den Dörfern kleine, viereckige, rötliche Kuchen verkaufen. Die Eingeborenen nennen sie Tanaampo. Als er sie näher untersuchte, 10 fand er, dafs es Kuchen von rötlichem Letten waren, welche gegessen werden. Die Einwohner von Neu-Kaledonien essen, um ihren Hunger zu stillen, faustgrofse Stücke von zerreiblichem Speckstein, in dem Vauquelin einen nicht unbeträchtlichen Kupfergebalt gefunden. In Popayan und in mehreren Teilen von Peru wird Kalkerde als Efsware für die Indianer in den Strafsen feilgeboten. Dieser Kalk wird mit der Coca genossen. So is finden wir das Erdeessen in der ganzen heifsen Zone unter trägen Menschenrassen verbreitet, welche die herrlichsten und fruchtbarsten Teile der Welt bewohnen.

106. Das Kreuz des Südens.
Bon A. v. Humboldt.

Reife in die Aquinoftialgegenden des neuen Kontinents. In deutscher Bearbeitung von H. Hauff. Stuttgart 1859. Bd.I, S. 181 Seit unserem Eintritt in die heiße Zone wurden wir nicht müde, in jeder Nacht die Schönheit des südlichen Himmels zu bewundern, an dem, je weiter wir nachh Süden vorrückten, immer neue Sternbilder vor unseren Blicken aufstiegen. Ein sonderbares, bis jezt ganz unbekanntes Gefühl wird in einem rege, wenn man dem Aquator zu, und namentlich beim Übergang aus der einen Halbkugel in die andere, 25 die Sterne, die man von Kindheit auf kennt, immer tiefer hinabrücken und endlich verschwinden sieht. Nichts mahnt den Reisenden so auffallend an die ungeheure Entfernung seiner Heimat, als der Anblick eines neuen Himmels. Die Gruppierung der großen Sterne, einige zerstreute Nebelflecke, die an Glanz mit der Milchstraße wetteifern, Strecken, die sich durch ihr tiefes Schwarz auszeichnen, geben dem Süd30 himmel eine ganz eigentümliche Physiognomie. Dieses Schauspiel regt selbst die Einbildungskraft von Menschen auf, die den physischen Wissenschaften sehr ferne stehen und zum Himmelsgewölbe aufblicken, wie man eine schöne Landschaft oder eine großartige Aussicht bewundert. Man braucht kein Botaniker zu sein, um schon am Anblick der Pflanzenwelt den heißen Erdstrich zu erkennen, und wer auch keine 85 astronomischen Kenntnisse hat, wer von Flamsteads und Lacailles Himmelskarten nichts weiß, fühlt, daß er nicht in Europa ist, wenn er das ungeheure Sternbild des Schiffs oder die leuchtenden Magellanischen Wolken am Horizont aufsteigen sieht. Erde und Himmel, allem in den Aquinoktialländern drückt sich der Stempel des Fremdartigen auf.

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Die niedrigen Luftregionen waren seit einigen Tagen mit Dunst erfüllt. Erst in der Nacht vom 4. zum 5. Juli unter 16 Grad Breite, sahen wir das fübliche Kreuz zum erstenmal deutlich; es war stark geneigt und erschien von Zeit zu Zeit zwischen den Wolken, deren Mittelpunkt, wenn das Wetterleuchten dadurch hinzuckte, wie Silberlicht aufflammte. Wenn es einem Reisenden gestattet ist, von seinen per 45 sönlichen Empfindungen zu sprechen, so darf ich sagen, daß ich in dieser Nacht einen der Träume meiner frühesten Jugend in Erfüllung gehen sah.

Unsere Freude beim Erscheinen des füdlichen Kreuzes wurde lebhaft von den jenigen unter der Mannschaft geteilt, die in den Kolonieen gelebt hatten. In der Meereseinsamkeit begrüßt man einen Stern wie einen Freund, von dem man lange 50 Zeit getrennt gewesen. Bei den Portugiesen und Spaniern steigert sich diese gemiltliche Teilnahme noch durch besondere Gründe: religiöses Gefühl zieht sie zu einem

Sternbild hin, beffen Gestalt an das Wahrzeichen des Glaubens mahnt, das ihre Väter in den Einöden der neuen Welt aufgepflanzt.

Da die zwei großen Sterne, welche Spitze und Fuß des Kreuzes bezeichnen, ungefähr dieselbe Rektaszension haben, so muß das Sternbild, wenn es durch den Meridian geht, fast senkrecht stehen. Dieser Umstand ist allen Völkern jenseits des Wendekreises und in der südlichen Halbfugel bekannt. Man hat sich gemerkt, zu welcher Zeit bei Nacht in den verschiedenen Jahreszeiten das südliche Kreuz aufrecht ober geneigt ist. Es ist eine Uhr, die sehr regelmäßig etwa vier Minuten im Tag vorgeht, und an feiner anderen Sterngruppe läßt sich die Zeit mit bloßem Auge so genau beobachten. Wie oft haben wir unsere Führer in den Savannen von Venezuela 10 ober in der Wüste zwischen Lima und Trurillo sagen hören: „Mitternacht ist vorüber, das Kreuz fängt an sich zu neigen!"

C. Schilderungen, Abhandlungen und Reden.
(Stilgattungen.)

107. Beschreibung eines Gemäldes, welches eine Scene aus Schillers 16 „Taucher“ darstellt.

Bon K. Gude.

Erläuterungen deutscher Dichtungen. Leipzig 1876. 8. Reihe, S. 211.

Auf der linken Seite des Vordergrundes sieht man eine weit in das Meer ragende Klippe, auf der eine bunte Gruppe, aus Rittern und Frauen bestehend, ver- 20 sammelt ist. Die Hauptfigur bildet der König, mit einem Purpurmantel geschmückt. In seinem wie aus faltem Marmor gemeißelten Gesichte liegt herausfordernde, gebietende Härte. Kein Zug von Weichheit oder Mitgefühl ist zu finden. Er läßt die Hand sinken, die eben den Becher zum zweitenmal in den klaffenden Meeresschlund geschleudert hat. Und gleichsam, als ob sich das Meer in seinem tiefsten 26 Innern über die frevelhafte Herausforderung des Königs empöre, tost und brandet und focht es bis zu dem fernen Horizonte. Die ergrimmten Wellen fahren mit Ungestüm in die Höhe, um im nächsten Augenblick ihr weißes, gekräuseltes Haupt in die Tiefe zu stürzen. Sie scheinen die Klippe in ihrer Wut verschlingen zu wollen. Zu diesem aufgeregten Elemente bildet die Menschengruppe auf der Klippe 30 einen grellen Kontrast. Ritter und Frauen sind über des Königs Begehren wie versteinert. Während einige Frauen mit Schrecken sehen, daß sich das Spiel um Leben und Tod wiederholt, bliden andere voll Teilnahme nach dem jungen Paare. Einzelne der jüngeren Ritter ermuntern durch lebhafte Zeichen des Beifalls den Knappen; die älteren hingegen äußern ihre Mißbilligung. Auf ihren vom Alter gefurchten 86 Gesichtern prägt sich Entrüstung aus. Ihre Augen sind auf den herrlichen Jüngling gerichtet, welcher erst vor wenigen Augenblicken wie durch ein Wunder dem Tode entronnen ist. Aus seinen vollen Locken trieft noch das Wasser. Er steht in ehrerbietiger Ferne vom Herrscher, am Rande der Klippe, und ist bereit, sich noch einmal in den Schlund zu stürzen. In seiner Haltung wie in seinem Ausdruck liegt 40 männliche Entschlossenheit und Kühnheit. Aber nur schüchtern erhebt er den Blick zum hohen Preise, zur Königstochter, die vor Weh fast zusammenbricht. Die feinen Züge des Gesichts, dessen Blässe durch die dunkle Farbe des üppigen Haares noch mehr hervortritt, erbeben im Schmerz um den Geliebten. Die jugendlich - schlanke Gestalt droht hinzusinken wie ein schwaches Rohr. Vergebens fleht ihr tränen 46 feuchtes Auge zum Vater, der jeder Regung des Herzens bar zu sein scheint. Wie

eine Ahnung, wenn sie mit der Liebe Hand in Hand geht, nicht täuscht, so fühlt auch hier die Prinzessin, daß der Jüngling nie wieder zu ihr zurückkehren wird. Die Zukunft liegt vor ihr schwarz wie das Meer, unheimlich wie der Himmel, an welchem die Wolken vorüberjagen und die düsteren Schatten mit dem blutigen Abendrote ver5 mischen, das die ganze Scene mit einem schaurigen, eigentümlichen Lichte übergießt.

108. Die Wiederkehr des Frühlings.
Von Kl. Harms.

Winter und Sommerpostille. Leipzig 1846. Tl. I, S. 469.

Überall ist Leben, junges, frisches, fröhliches Leben, zwar nach einem Kampfe, 10 der mehrere Wochen gedauert hat. Der kalte Ost widerstand lange dem sanften Weste. Doch die Vögel waren gewiß, daß dieser bald siegen würde; daher sang die Lerche längst ihren Jubel, daher kam der Storch in die Armut unserer Gegend, wohl wissend, wie reich sie bald würde, und unsere Kinder wurden von schwachen Sonnenstrahlen auf ihre Spielpläge gelockt, in ihrem Blute fühlend, daß der Früh15 ling käme. Nun ist er da. Der schwere Kampf zwischen Leben und Tod ist ausgekämpft. Alles lebt, die ganze Natur lebt wieder. Sehet hinaus! die Erde trägt Grün, täglich wächst die junge Saat höher, immer dichter wird das Gras, das Leben kocht in Pflanzen und Bäumen, jeden Morgen hat sich eine neue Blume aufgetan, jeden Morgen haben sich tausend Blüten entfaltet; Millionen liegen an 20 den Brüsten der Natur und saugen Leben ein; Millionen, unzählige Millionen Pflanzen und Samenkörner werden von Gärtners und Landmannes Händen ihr an die Brüste gelegt, daß sie denselben Milch und Leben gebe, mit zu schmücken den Garten, mit zu zieren das Feld, mit zu füllen dereinst die Scheuern der Menschen. Alles lebt. Wo kommt ihr her, die wir tot glaubten? Du Gewürm, erstarrt und 25 begraben, durchbrichst die Erde, die dich deckte, und wimmelst umher, wohin wir nur unsern Fuß setzten. Woher ihr Mücken im Sonnenstrahl? Wir sahen euch lange nicht, und nun schwärmen Wolken von euch auf jedem Pfade. Ihr Bienen des Stocks, wer weckt euch aus dem trägen, tiefen Schlummer, daß ihr jezt voll regen Lebens um jeden Blumen- und Blütenkelch summet? 3hr Fische in den Gründen, 30 wer ruft euch herauf an den klaren Wasserspiegel, und ihr Vögel in den Lüften, wer locket euch aus euren Todeshöhlen hervor in bunter Zahl, daß ihr jezt die Höhe bevölkert und den stillen Morgen mit euren Liedern begrüßt? Das tut der Frühling, der da ist ein Lebengeber der ganzen Natur.

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109. Die Fülle des Sommers.
Von Kl. Harms.

Winter und Sommerpostille. Leipzig 1846. Tl. II, S. 208.

Kaum, daß man ein Blatt findet, das nicht zahlreich bewohnt wäre, kaum, daß wir einen Schritt tun können, ohne Lebendiges vor unseren Füßen wahrzunehmen! Wolken von kleinem Geflügel spielen im Sonnenschein! Nirgends, nirgends, 400 Mensch, bist du in dieser Zeit allein. Es wühlt unter deinem Site; es zirpt dir zur Seite; es schwebt über deinem Haupte; es singt hinter dir; es flattert vor dir: überall ist des Lebendigen Fülle zu dieser Sommerzeit. Es sind Wesen, die mit sein wollen auf dieser Erde nach ihres Schöpfers Willen; denen er angewiesen hat ihren Ort; denen er gegeben hat zu dem Bedürfnis die Werkzeuge, es zu be= 45 friedigen; denen mehrere und wenigere Sinne aufgetan sind, weiter zu bringen als zu dem, was sie berühren; die den Schmerz und die Freude kennen und die Freude suchen wie du, o Mensch, und dir verwandt sind. Wolltest du verachten der eins, nicht eines Anblicks, nicht eines Gedankens sie würdigen? Du kannst hundert töten mit einem Fußtritt, aber auch ein einziges bilden? Nein, mußt du bekennen, dazu 50 gehört eine Gotteshand, Gottes Allmachtshand; wie stark auch dein Arm, wie bes

hende deine Finger und Werkzeuge, wie kunstreich dein Verstand ist, so kannst du kein einziges schaffen, von welchen Gott so viele tausendmal Tausende geschaffen hat, dermaßen, daß bu nicht zählen kannst, wieweit du mit deinen Augen nur reichst, nicht zählen kannst, wieviel auf einem einzigen Baum nur lebet, denn es ist allenthalben voll von allerlei Art, wogt und treibt, wimmelt und summt in lauter Fülle, 5 Lebensfülle, zur Sommerszeit. Das nötigt uns eine hohe Bewunderung ab.

Und aller Augen warten auf ihn, daß er ihnen Speise gebe. Gott gibt auch. Sehet die Fülle von Nahrung zur Sommerszeit und bewundert den Schöpfer! Stellet euch die Erde leer vor, wie sie es ist zur Winterszeit, und denket euch auf diese leere, nackte Erde alle die Millionen Lebendiger, deren Leben entfleucht, sobald 10 die Nahrung gebricht; gedenket des Rindes, welche Haufen eines schon braucht, um versorgt zu werden ein Jahr lang, und so viele Tausende sollen doch Nahrung haben: muß da nicht die ganze Erde bedeckt werden mit Speise? nicht genug, mit Speise, die sich jeden Morgen vermehrt und erneuet hat? Wie wir es auch finden! Die ganze Erde ist überzogen mit einem Teppich, ist wie ein Tisch, der nicht leer wird, 15 da Gottes Hand immer von neuem aufträgt. Und er sättiget alles mit Wohlgefallen. Die Raupe findet ihr Blatt, die Biene ihren Blütenfeld), das Rind sein Futter, und der Mensch sein Brot. O Gott, welche Wunder verrichtest du zur Sommerszeit! wieweit, wieweit tust du deine milde Hand auf! Wir übersehen's_nicht, verstehen's nicht; aber bewundern können wir deine Weisheit und Allmacht in solcher 20 Lebens- und Nahrungsfülle.

110. Der Herbst ein Treiber zu Fleiß und Arbeit.

Bon Kl. Harms.

Winter und Sommerpostille. Leipzig 1846. Tl. II, S. 337.

Immer kälter die Luft, immer rauher die Winde, immer fürzer die Tage, das 25 ist der Herbst, welcher spricht: „Was du tun willst, das tue bald, du kannst nicht graben im Frost, du kannst in den Schnee nicht säen." Wenn wir in diesen Wochen das Feld betrachten, welcher Fleiß und welche Arbeit, zu der das Tageslicht kaum hinreicht, stellt sich uns vor Augen! Das macht der Herbst, welcher ist ein Treiber zu Fleiß und Arbeit. Die späteren Früchte, mit welcher Aufmerksamkeit und se Hastigkeit werden sie geerntet! die späteren Saaten, mit welcher Anstrengung der Menschen und des Viehes werden sie beschafft! Des Ackers Bereitung aufs nächste Jahr, Mond und Sternenlicht muß dazu leuchten, weil die Sonne nicht mehr lange genug scheint! Und wer im Sommer behindert worden oder in den früheren Erntetagen, wie geschäftig sehen wir den jetzt, noch zu sammeln, was zu sammeln ist, zu 35 bergen, was zu bergen ist, daß er habe auf den Winter, welcher nur zehrt und nicht nährt, und noch zu tun, wozu es bald nicht die Zeit mehr sein wird! Aber lasset den Herbst doch nicht allein für den Landbebauer und den Landbewohner einen Treiber zu Fleiß und Arbeit sein, er sei es für alle, da einem jeden sein Feld ja angewiesen ist. Nämlich sein Amt, sein Geschäft, sein Beruf ist einem jeden sein Feld, und 40 schon das Kind, welches noch zur Schule geht, soll arbeiten auf diesem seinem Felde. Laßt uns den Treiber hören! Er spricht: Was du tun willst, das tue bald. Du willst Samen streuen in die Seelen deiner Söhne und Töchter: so säume nicht, bis es zu spät wird, bis ihre Seelen verhärtet sind!" Der Herbst sagt uns, daß der Winter komme. Du willst an deiner eigenen Besserung arbeiten. O daß es dein 4 redlicher Wille wäre! Drum fäume nicht; es möchte der Tod zu schnell kommen und dich ins Grab ziehen als einen Sünder vor Menschen und vor Gott. Siehe, wie jezt alles in der Natur zu Grabe geht. Du willst von nun an dein Amt gewissenhafter führen, nicht länger hören des Vorteils Ruf und der Bequemlichkeit Lockung. höre auch den Treiber zu Fleiß und Arbeit, was der Herbst spricht: Eile, eh' der Winter des Lebens kommt und dir unmöglich macht auszuführen, was

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du jest beschließest!" Da wollte noch mancher Landmann ein Feld bestellen und ist zu spät gekommen. - Du willst noch Menschen glücklich machen, wie du Gelegenheit und Vermögen dazu hast: zögere nicht! Es kann bald Schnee und zuviel Schnee auf dich fallen, Stürme der Zeit können dich erreichen, daß du selber kaum stehen, selber kaum fortkommen kannst. Wegen herbstlichen Unwetters kommt manche Feldarbeit nicht zustande. Du willst für die Deinen noch eine gute Tat tun:,,Was du tun willst, das tue bald", ist die Herbstlehre. Eben hing jenes Blatt noch am Baume fest, jetzt ist es abgefallen: so schnell kannst du auch, ein Blatt, abfallen vom Baum des Lebens. Ach, sehet und zählet, wenn ihr sie zählen könnt, die Unglücklichen, 10 welche zu spät gekommen sind, weil sie die Lehre des Herbstes nicht achteten, die bekümmerten Eltern, welche den Sinn der Kinder nicht mehr zu beugen imstande sind, die verstockten Sünder, in deren Gemüt weder die Schärfe des Gesetzes noch die Wärme des Evangeliums mehr einzudringen vermag, die Trägen im wichtigen Amt, die noch säen wollten, als sie das Feld der Wirksamkeit völlig hatten 15 verwildern lassen und die Zeit zur Reinigung desselben verschwunden war, säumigen Menschenfreunde, welche die Klagen der Unglücklichen lange ohne Rührung angehört hatten und erst kamen, da es zu spät war. Ach, sehet und zählet, wenn ihr sie zählen könnt, die Tränen eines schlechten Familienvaters um sein hungerndes Weib und seine nackten Kinder. Auf die Zukunft verließ sich der Versorger, wagte 20 viel und brachte sein Gut hindurch. Nun ist die Zukunft da und hat nichts gebracht als die traurige Frage: Was sollen wir essen? womit uns kleiden? Er möchte geben und hat nicht, möchte arbeiten und kann nicht; er kann nur mitseufzen, mitweinen, denn er hörte nicht beizeiten den Treiber zu Fleiß und Arbeit. O höret ihn doch, da ihr noch Zeit habet! Fraget den Herbst: Werd' ich den Frühling erleben, die Vögel wiedersehen und das Kommen neuer Blätter; ob noch ein halbes Jahr Zeit ?“ Er spricht: Wie du siehest! was du tun willst, das tue bald; ich kann nur treiben zu Fleiß und Arbeit."

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111. Die Charaktere in „Hermann und Dorothea“.

Bon A. W. v. Schlegel.

Sämtliche Werke. Herausgegeben von E. Böding. Leipzig 1846. Bd. XI, S. 208.

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So einfach wie die Geschichte, ist auch die Zeichnung der Charaktere. Alle starken Kontraste sind vermieden, und nur durch ganz milde Schatten ist das Licht auf dem Gemälde geschlossen, das eben dadurch harmonische Haltung hat. Bei Hermanns Vater wird die mäßige Zugabe von Eigenheiten, von unbilliger Laune, von 35 behaglichem Bewußtsein seiner Wohlhabenheit, das sich durch Streben nach einer etwas vornehmeren Lebensart äußert, durch die schäzbarsten Eigenschaften des wackeren Bürgers, Gatten und Vaters reichlich vergütet. Der Apotheker unterhält uns auf seine Unkosten; aber er tut es mit 1oviel Gutmütigkeit, daß er nirgends Unwillen erregt, und selbst sein offenherziger Egoismus, von dem man anfangs Gegenwirkung 40 befürchtet, ist harmlos. Dergleichen naiv-lustige Züge sind ganz im Geiste der epischen Gattung; denn ihr ist jene idealische Absonderung der ursprünglich gemischten Bestandteile der menschlichen Natur fremd, woraus erst das rein Komische und Tragische entsteht. Übrigens kann man Herzlichkeit, Geradsinn und gesunden Verstand den allgemeinen Charakter der handelnden Personen nennen; und doch sind sie durch die 45 gehörigen Abstufungen individuell wahr bestimmt. Bei der Mutter, dem Pfarrer und dem Richter wird es schwer, zu unterscheiden, wo die sittliche Würde am reinsten hervorleuchtet. Wie schön gedacht ist es, bei Hermann die kraftvolle Gediegenheit seines ganzen Wesens mit einem gewissen äußeren Ungeschick zu paaren, damit ihn die Liebe desto sichtbarer umschaffen könne! Er ist eins von den ungelenken so Herzen, die keinen Ausweg für ihren Reichtum wissen, und denen die Berührung entgegenkommender Zärtlichkeit nur mühsam ihren ganzen Wert ablockt. Aber da

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